Mit dem Truppenabzug der NATO-Kräfte übernahmen die Taliban nahtlos die Macht in Kabul. Seitdem steht Afghanistan unter der Terrorherrschaft der Taliban. Bis heute harren tausende bedrohte Afghan*innen mit Aufnahmezusage in Afghanistan aus. Weitere zehntausende bedrohte Menschen ohne Aufnahmezusage schweben in Lebensgefahr.
„Auch ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban hat die Bundesregierung keine Anlaufstelle für gefährdete Personen aufgebaut. Eine solche Stelle ist noch nicht einmal geplant. Zudem wurde versäumt, entsprechende Personalkapazitäten zu schaffen, um ein Bundesaufnahmeprogramm sinnvoll umzusetzen,” sagt Tareq Alaows von Kabul Luftbrücke. „Dass noch nicht mal die Anfragen gefährdeter Personen aus dem letzten August abgearbeitet sind, ist nicht nachvollziehbar. Die Bundesregierung muss im 21. Jahrhundert in der Lage sein, eine Onlineplattform einzurichten, an die sich Betroffene wenden können. Wenn das nicht passiert, setzt sich das Chaos der alten Regierung fort. Nach einem Jahr, in dem die Zivilgesellschaft mit zehntausenden Anfragen allein gelassen wurde, wollen wir endlich wissen, an wen sich Verfolgte aus Afghanistan wenden können.”
Ein Jahr nach der Machtübernahme gibt es noch keine Strukturen bei der Bundesregierung, um Anträge von bedrohten Menschen in relevanter Zahl zu bearbeiten. Stattdessen erwartet die Bundesregierung, dass Hilfsorganisationen die Fälle von Betroffenen entgegennehmen und bewerten. „Wir wollen und können nicht entscheiden, wer in Afghanistan wie gefährdet ist und wer nach Deutschland muss. Das ist Aufgabe des Staates. Wir werden uns nicht zum Flaschenhals für ein zu klein geratenes Aufnahmeprogramm machen lassen. Für eine echte Kooperation mit der Regierung stehen wir zur Verfügung, um bei der Evakuierung aus Afghanistan zu unterstützen. Das bedeutet aber auch, dass die Bundesregierung endlich tragfähige Strukturen für die Fallbearbeitung von bedrohten Personen aufbauen muss. Nur, wenn die Bundesregierung ihren Teil der Aufgabe übernimmt, werden im Aufnahmeprogramm die Gefährdetsten evakuiert werden. Es braucht ein transparentes Verfahren sonst wiederholen sich die Fehler aus dem August letzten Jahres, als lediglich diejenigen berücksichtigt wurden, die zufällig mit einer NGO oder GO in Kontakt standen,” sagt Tilly Sünkel, Projektleiterin bei Kabul Luftbrücke.
Zehntausende Menschen, die für Demokratie, Menschenrechte und Freiheit gekämpft haben und auf die Versprechen der Bundesregierung vertraut haben, befinden sich noch immer im Land. Ihre Lage verschlechtert sich von Tag zu Tag. Es war absehbar, dass die Evakuierungen im Laufe der Zeit immer schwieriger werden, denn die Taliban sind zunehmend besser organisiert darin, Menschen an der Ausreise zu hindern. Mit jeder Woche, die vergeht, wird es für gefährdete Menschen schwieriger, dem Regime zu entfliehen. Es wurde zu viel kostbare Zeit verschenkt. Ein Bundesaufnahmeprogramm ist im Koalitionsvertrag verankert, Die Bundesregierung hat aber immer noch nicht die nötigen Ressourcen aufgebaut, um dieses umzusetzen und noch kein transparentes Verfahren etabliert, welches akut bedrohten Menschen eine Möglichkeit für eine sichere und legale Ausreise erlaubt. Die Bürokratie der Ministerien verhindert zügige Ausreisen aus Drittstaaten. „Der gesamte Prozess ist zu langsam. Immer wieder erleben wir, dass bürokratische Hürden zu unnötigen Verzögerungen führen“, sagt Sünkel. Beispielsweise werden bei der Evakuierung der Kinder von bereits nach Deutschland evakuierten Elternteilen (Familienzusammenführungen) DNA-Nachweise über die Verwandtschaft verlangt. Diese kostspieligen Nachweise verzögern die Evakuierung um Wochen. Deshalb fordert Sünkel: „Die neue Regierung darf das Spiel des Seehofer-Ministeriums nicht weiterspielen. Noch immer werden Menschen in Lebensgefahr bürokratische Knobelaufgaben vorgesetzt, statt ihnen schnell zu helfen. Es gibt inzwischen einen Untersuchungsausschuss wegen der katastrophalen Evakuierungsbilanz. Jetzt muss es endlich praktikable Verfahren geben.“