Familie Taiman kam getrennt nach Deutschland: Erst die Universitätsdozentin Tahmina 2018 aus Afghanistan, dann ihr Mann Jawed, der in England als Regisseur arbeitete und für seine Frau nach Deutschland zog. Und vor zwei Jahren kam schließlich ihre Tochter zur Welt, deren Heimat nun das rheinische Städtchen ist, in dem ihre Eltern wohnen. Und auch die Großelterngeneration hat den Sprung aus Afghanistan machen müssen – zu groß war die Gefahr durch die Taliban. Ein Interview mit Jawed und Tahmina Taiman über die Frage, wie schwierig der Verlust der Heimat und wie ihre Zukunft aussehen könnte.
Ein Interview von Alex Bühler
Jawed:
Ich denke, wenn die Instabilität und der Krieg nicht gewesen wären, wäre ich wahrscheinlich immer noch in Kabul. Aber wegen der Probleme, die die beginnenden Kämpfe auslösten, dem Mangel an Sicherheit – all diese Dinge zwangen mich dazu, Afghanistan zu verlassen und nach Deutschland zu kommen. Und ich habe ein neues Zuhause gefunden.
Alex:
Tahmina, was vermisst Du am meisten?
Tahmina:
Am meisten vermisse ich meinen Job.
Ich war Dozent an der Theaterabteilung der Universität Kabul und unterrichtete Figurentheater, ich vermisse am meisten meinen Job, meine Studenten und die Gegend. Eigentlich habe ich zuerst an der Universität Kabul studiert und dann dort gearbeitet, also ist es fast die Hälfte meines Lebens, das vermisse ich sehr.
Alex:
Tahmina, Du hast Figurentheater unterrichtet. Ist das sehr nah dran am Marionettentheater?
Tahmina:
Ich brachte meinen Studenten Puppenspiel bei, für Kinder- und auch für Erwachsenenaufführungen. Durch Puppen kann man mehr sagen –für Erwachsene gilt das auch: wenn man als Kinder spricht, können sie mehr sagen. Denn jeder hat ein Kind in sich. Also nehme ich diese Art von Puppe für meine Studenten, durch die sie Erwachsenen und Kindern etwas sagen können. So haben sie ein Ziel für Erwachsene und Kinder und lernen ihnen etwas durch die Marionette zu sagen – nicht direkt.
Alex:
Ich habe gesehen, dass es ein speziell afghanisches Theater gibt, das Buz-Baz Theater, mit einer Ziege als Hauptfigur und Musik. War diese traditionelle Kulturform ein Thema?
Tahmina:
Ich denke, es ging vor allem um Kultur, weil meine Student:innen aus verschiedenen Teilen Afghanistans kamen und sie sehr unterschiedliche Kulturen in ihren Städten haben. Es war also sehr interessant und schön, durch Puppen über Kultur zu sprechen. Andere konnten etwas über die unterschiedliche Kultur Afghanistans lernen, weil einige, selbst wenn sie in Afghanistan leben, keine Informationen über die unterschiedliche Kultur verschiedener Städte oder verschiedener Ethnien haben. Also ging es für Erwachsene am meisten um Kultur und für Kinder natürlich um Grundbildung, nicht so hoch aufgehängt oder Kultur-Blablabla, aber für Erwachsene ging es meistens um Kultur.
Alex:
Jawed, was vermisst Du am meisten?
Jawed:
Oh, das ist eine sehr gute Frage. Wenn ich eine Liste auf einem Blatt Papier machen müsste, würde es wie ein afghanischer Teppich mit zu vielen Erinnerungen aufrollen, zu viel – das Land, die Landschaft. Wahrscheinlich weil ich Filmemacher bin. Ich bin viel durch Afghanistan gereist.
Ja, ich vermisse die natürliche Schönheit, den Frieden und die Harmonie, all das, was die Landschaft vermittelt. Ich glaube, das vermisse ich am meisten.
Alex:
Könntest Du uns ein Beispiel dafür geben?
Jawed:
Ich bin einmal in die Provinz Samangon gereist. Damals dachte ich, dass Afghanistan gebirgig ist: mit felsigen, spitzen Bergen. Aber als ich von der Hauptstadt Samangons in einen anderen Bezirk reiste, sah ich unterwegs Schluchten – das war sehr seltsam für mich. Berge, die platt gemeißelt sind. Ich frage, wie kam das in diesen Tälern zustande? Ich hielt das Auto an und fing an, Fotos zu machen. Wenn ich diese Bilder eines Tages den Leuten zeige, müssen sie mir glauben, dass ich diese Art von Bergen in Afghanistan gesehen habe. Und ob Sie es glauben oder nicht, ich sah teilweise blaue Berge, Berge, die rote Farbelemente enthielten, graue Berge. Sie können alle Arten von Bergen finden, einmal fand ich sogar einen See auf einem Berg in der Provinz.
Alex:
Du arbeitest noch an einem Film. Worum geht es da?
Jawed:
Der Film, an dem ich arbeite – die Idee entstand, als ich Teil eines deutschen Spielfilms namens „Zwischen Welten“ war, der von Feo Aladag in Afghanistan gedreht wurde. Die Hauptfigur dieses Films wurde zum Thema meiner Dokumentation. Ich wollte seine Reise von einem Dorfjungen aus dem Norden Afghanistans, der es schließlich auf den roten Teppich der Berlinale schaffte, und seine Erfahrungen in dieser Zeit verfolgen. Aber dann habe ich den Film gestoppt und ihn nicht mehr weitergeführt. Als dann die Taliban das Land übernahmen, fingen die Regisseurin, Feo, und ich an, nach Möglichkeiten zu suchen, den Protagonisten vor Schwierigkeiten zu schützen. Weil er in diesem deutschen Film mitgespielt hatte, hätte er bei einer Verhaftung durch die Taliban wahrscheinlich mit unangenehmen Folgen rechnen müssen. Deswegen warte ich jetzt mal ab und verfolge die Geschichte, wie er aus Afghanistan herauskommt und es nach Deutschland schafft, um sein Leben neu zu beginnen. Es ist also im Grunde ein Film, der das ein Lebensexperiment eines Menschen verfolgt. Vom Leben in einem Dorf auf einen europäischen roten Teppich, das stellt sich eher als ein Menschheitsprojekt heraus. Und ein humanitäres Projekt, weil einige Leute versuchen, Menschen zu retten. Was ihr von der Luftbrücke tut. Und natürlich seid ihr ein Teil davon, weil ihr ihn nach Deutschland evakuiert habt. Das ist im Grunde mein Film. Ich arbeite immer noch daran und hoffe auf Gelegenheiten, ihn fertigzustellen.
Ich plane, in die Stadt zu reisen, wo er jetzt mit seiner Frau und dem kleinen Sohn lebt. Dann drehen wir ein paar Wochen und schließen es dann ab.
Alex:
Wie ist es in Afghanistan jetzt?
Jawed:
Wegen meiner Liebe und meiner Leidenschaft zum Land bin ich durch digitale Medien und die Nachrichten, die aus dem Land kommen, sehr genau darüber informiert, was dort vor sich geht. Dadurch bin ich immer auf dem laufenden. Ich habe mit meinen Freunden zu Hause in Kabul gesprochen, Leuten, die in den Medien arbeiten, und ich habe sie zur Situation befragt. Es ist sehr traurig mitanzusehen, dass die Menschen die Hoffnung verlieren. Sie versuchen verzweifelt, ihr Land zu verlassen, einfach zu gehen und außerhalb Afghanistans bessere Möglichkeiten für sich und ihre Kinder zu finden. Das ist ziemlich traurig. Und ich muss ehrlich sagen, dass es auch für mich traumatisierend ist, weil ich das seit sechs Monaten höre – es sind keine guten Nachrichten.
Alex:
Wie geht ihr mit den Nachrichten um? Verfolgt ihr die Nachrichtenlage trotzdem?
Jawed:
Meiner Frau macht es besser – sie schaut sich nicht die Nachrichten an. Sie will nicht frustriert sein, es spült zu viele schlechte Erinnerungen hoch.
Alex:
Du arbeitest ja schon seit einiger Zeit in einem internationalen Umfeld: Hat Tahmina Pläne, hier in Deutschland wieder mit dem Puppentheater zu beginnen?
Jawed:
Ich glaube, das wäre gut. Sie hat vorher über die Sesam Straße gesprochen, über Marionetten-Theater. Ich habe für ToloTV die afghanische Version von Sesamstraße produziert.
Alex:
Kann man das noch im Internet sehen?
Jawed:
Ich schicke Dir gerne was davon, es heißt The Bachelor Simpson oder The Garden of Simpson. Das war Teil der Ausbildung meiner Frau. Sie wurde von einem Puppenspielermeister, der aus New York für zwei Wochen nach Indien kam, ausgebildet. Sie wurde richtig gut – und der Meisterpuppenspieler war sehr begeistert, wie sie sich schnell die Fähigkeiten angeeignet hat. Als sie (nach Kabul) zurückkam, gab sie gab die Informationen an Universitätsstudenten weiter. Und ich fuhr fort, die Fernsehserie für die Kinder Afghanistans zu produzieren.
Alex:
Woher nehmt ihr die Motivation, das weiterzumachen?
Jawed:
Sie hat das Wissen und die Fähigkeiten. Sie überlegt auch, ihr eigenes Theater zu gründen, vielleicht erzählt sie afghanische Geschichten, wie einige echte Geschichten für das Theater oder durch das Marionettenspiel, denn das Puppenspiel hat zwei Varianten: Als dunkles Erwachsenschauspiel oder als aufgeregte Kinder Version.
Oder als Mischung.
Alex:
Gibt es da noch weitere kulturelle Anknüpfungspunkte?
Jawed:
Auf unserer Indien-Reise sahen wir dass es in Rajasthan besonders populär ist, Marionetten-Geschichten über den König, die Königin und den Krieg zu erzählen. Von den Geschichten sahen wir eine Menge.
Tahmina:
In Afghanistan haben wir eine berühmte Geschichte, sie heißt Bodekichini oder die Übersetzung aus dem chinesischen.
Ja, das ist meine Lieblingsgeschichte. Manchmal erzähle ich diese Geschichte unserer Tochter auf Persisch. Ich habe sie schon als Kind gehört und habe sie mal mit meinen Student:innen aufgeführt – das war sehr schön, meine Lieblingsaufführung.
Alex:
Tahmina, hast du jemals darüber nachgedacht, die Geschichte wie du Flüchtling wurdest, in diese Art Theater zu übersetzen?
Tahmina:
Ja, ich habe oft darüber nachgedacht. Mit einen Leuten in Köln habe ich darüber gesprochen, aber das ist ein bisschen schwierig, die haben meine Idee nicht so ganz verstanden oder waren nicht daran interessiert.
Alex:
Entwirfst du deine Puppen selbst?
Tahmina:
An der Universität hatten wir Seminare, in denen wir selbst Puppen entwarfen. Student:innen kamen aus anderen Gruppen dazu und ich erklärte ihnen manchmal, wie sie ihre eigenen Marionetten entwerfen könnten. Sehr interessant, manche waren sehr talentiert, manchmal mal klappte es nicht, aber machten weiter.
Alex:
Hast Du noch Fotos dieser Puppen?
Tahmina:
Ich habe versucht, welche zu finden – aber sie sind in meinem alten Computer. Wenn der noch funktioniert, kriegen wir die.
Ich hatte viele in meinem Kabuler Büro. Aber leider bekamen meine Kollegen an der Universität Probleme und sind selbst geflohen – ich glaube, sie sind verloren.
Alex:
Doofe Frage, aber hassen die Taliban Marionettentheater?
Tahmina:
Ja, weil es was zeigt –
Jawed:
Ein Figur – und das wird nicht als islamisch angesehen.
Alex:
Weil es ein Abbild zeigt.
Tahmina:
Eigentlich höre ich nicht gerne Nachrichten, außer um meinen Kollegen zu helfen, aus Afghanistan herauszukommen. Die Taliban schließen die Theaterabteilung und bauen die Finanzfakultät zu einer viel kleineren Fakultät oder Abteilung um. Die dann nicht mehr so groß ist wie vorher. Jetzt gibt es auch keine Student:innen und Dozent:innen mehr dort. Alle haben Angst vor den Taliban, sie überprüfen alle Leute.