Mädchen auf Erfolgskurs
Nach einem Jahr in Deutschland habe ich meine Gymnasialempfehlung bekommen. Das war eigentlich ganz einfach, weil ich eine sehr strenge Lehrerin hatte: Meine beste Freundin aus dem Heim. Sie ist auch Afghanin. Wir haben immer zusammen gelernt und sobald ich einen kleinen Fehler gemacht habe, hat sie mich vorwurfsvoll angeschaut: „Das hast du falsch ausgesprochen. Nochmal.“ So ging das ungefähr hundertmal am Tag. Und plötzlich konnte ich Deutsch. Selbst die schwierigsten Worte kenne ich. Hier der Beweis: Hallo, können Sie mir sagen, wo der Schienenersatzverkehr ist?
Ich habe vier große Schwestern, die alle wirklich schlau sind. Bahara geht mit mir aufs Gymnasium, sie will Ärztin werden. Meine Schwester Mahnour war Taekwondo-Meisterin in Kabul, sie geht hier jeden Tag ins Fitnessstudio. Wären wir in Kabul geblieben, wäre das unser Ende gewesen. Ich hatte gerade die sechste Klasse beendet. Mädchen ab der sechsten Klasse dürfen nicht mehr zur Schule. Ein Verwandter wollte meine 15-jährige Schwester heiraten, weil es für sie eh keine Zukunft mehr gäbe, hat er gesagt. Ich mag nicht daran denken, was aus uns geworden wäre, wenn wir nicht nach Deutschland gekommen wären.
Manchmal wundere ich mich aber auch über dieses Land. Warum schimpfen deutsche Schüler so viel? Das ist doch nicht normal. Gestern hat ein Mädchen etwas auf dem Schulhof zu mir gesagt, da war ich wirklich schockiert. Fragt mich jetzt bitte nicht, was sie gerufen hat. Jetzt mal ehrlich, man muss nicht jedes deutsche Wort kennen. Das gilt auch für euch.
Hadia
13 Jahre alt
Ein Jahr und sieben Monate in Deutschland
Foto 1: Hadia bei ihrer Einschulung an der Sophie-Brahe-Gemeinschaftsschule in Berlin im Sommer 2023
Foto 2: Just Hadia